Gleiches Recht für alle? ZUGANG ZUM RECHT mit Prof. Dr. Alexander Graser

Shownotes

"Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich" – so steht es in Paragraph 3 unseres Grundgesetzes. Aber hält das auch dem Realitätscheck stand – bekommen also alle Menschen bei uns Recht, wenn es ihnen zusteht? Dieser Frage gehen wir in dieser Folge des Gasthörer zusammen mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Alexander Graser nach.

Eines seiner Forschungsfelder ist nämlich der Zugang zum Recht. Das bedeutet: Auch wenn grundsätzlich jede und jeder bei uns in Deutschland die gleichen Rechte hat, fällt es einigen Bevölkerungsgruppen leichter und anderen schwerer, ihr Recht auch wirklich durchzusetzen. Warum das so ist, auf welche Bevölkerungsgruppen das zutrifft und was man dagegen tun kann – das ist einer der Schwerpunkte dieser Folge.

Aber am Lehrstuhl von Alexander Graser geht es nicht nur um wissenschaftliche Theorie. Hier gibt es zwei Projekte, in denen sich Studierende und Mitarbeitende der Fakultät zusammen engagieren, um etwas gegen dieses Ungleichgewicht zu tun: In der Refugee Law Clinic helfen Studierende Geflüchteten bei ihren ganz individuellen und konkreten Fällen – ehrenamtlich und mit großem persönlichen Einsatz. Und in der Strategic Litigation Unit unterstützen die Teilnehmenden am Projekt nicht nur einzelne dabei, im deutschen Behördendschungel durchzublicken und zu ihrem Recht zu kommen, sondern es wird ein kompletter deutscher Großkonzern verklagt. Warum, welche Rolle die Mitarbeitenden der Strategic Litigation Unit bei diesem Prozess spielen, und was das überhaupt bedeutet – "Strategic Litigation" – auch darum geht es natürlich in dieser Folge.

Bildbeschreibung

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Neben Alexander Graser sprechen wir dafür mit Siri Mertinat, Studentin in der juristischen Fakultät und Mitglied der Refugee Law Clinic, und mit Elisabeth Rauh, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Politik und Teil der Strategic Litigation Unit.

Der Podcast Gasthörer ist eine Produktion des Bereichs Kommunikation & Marketing der UR.

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Transkript anzeigen

Katharina Herkommer: Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei.

Katharina Herkommer: Ich dachte immer, das ist halt irgendein moderner Spruch und war super überrascht, als ich in meiner Recherche für diese Folge rausgefunden hab:

Katharina Herkommer: Das steht genau so schon in den "Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts" und zwar im Band aus dem Jahr 1878, also vor fast 150 Jahren.

Katharina Herkommer: Dass dieser Satz in unseren ganz alltäglichen Sprachgebrauch übergegangen ist, ist bestimmt kein Zufall, denn leider gilt er heute genauso wie damals.

Katharina Herkommer: Das Original-Zitat geht aber noch weiter:

Katharina Herkommer: "Recht haben und Recht bekommen ist zweierlei, denn wer Recht hat, muss darthun können, dass er Recht hat."

Katharina Herkommer: Schon vor 150 Jahren war also klar, es reicht nicht aus, Recht zu haben, sondern man muss das auch beweisen können.

Katharina Herkommer: Und damit sind wir beim Kern des Problems, mit dem wir uns heute beschäftigen wollen:

Katharina Herkommer: Nicht jede und jeder hat die Möglichkeit, sich aus eigener Kraft Recht zu verschaffen.

Katharina Herkommer: Warum das so ist, für wen das am häufigsten zutrifft und was man für mehr Gerechtigkeit in unserer Rechtssprechung tun kann, darum geht es in dieser Folge des Gasthörer.

Katharina Herkommer: Und dafür habe ich natürlich wieder den perfekten Gesprächspartner hier ins Studio eingeladen, und zwar den Juristen Prof. Dr. Alexander Graser – Hallo Alex!

Alexander Graser: Hallo, freu mich auf unser Gespräch.

Titel: Gasthörer.

Katharina Herkommer: Schön, dass du da bist, Alex.

Katharina Herkommer: Und schön, dass auch ihr wieder dabei seid, liebe Hörerinnen und Hörer, hier beim Gasthörer, dem Wissenschaftspodcast der Uni Regensburg.

Katharina Herkommer: Ich bin Katharina Herkommer.

Katharina Herkommer: Und für alle, die Angst haben, dass es heute nur um Akten und Paragraphen geht, denen will ich diese Bedenken jetzt sofort nehmen.

Katharina Herkommer: Denn wenn ich sag, wir sprechen darüber, was man gegen Ungerechtigkeiten in unserem Rechtssystem tun kann, dann meine ich damit ganz praktische Dinge, die hier an der Uni Regensburg passieren und wo sich Studierende und Lehrende mit viel Zeit und Elan in konkreten Fällen persönlich engagieren.

Katharina Herkommer: Einer von denen, die da involviert sind, bist du, Alex,

Katharina Herkommer: und am Anfang stelle ich immer ganz gern eine Frage, auf die ich meinen Gast so gar nicht vorbereitet habe.

Katharina Herkommer: Und weil es heute ja ganz viel um Rechtsstreitigkeiten geht, wäre das: Streitest du dich eigentlich gerne?

Alexander Graser: Gar nicht, gar nicht.

Alexander Graser: Im Privaten gar nicht.

Alexander Graser: Und auch so, was die persönlichen Angelegenheiten angeht.

Alexander Graser: Ich habe noch nie einen Prozess geführt.

Katharina Herkommer: Bevor wir dazu kommen, wie und warum du dich beruflich streitest, möchte ich dich unseren Hörerinnen und Hörern noch kurz vorstellen.

Katharina Herkommer: Du bist hier bei uns an der Uni Regensburg Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Politik, insbesondere Europäisches und Internationales Recht sowie Rechtsvergleichung.

Katharina Herkommer: Ursprünglich stammst du aus Frankfurt am Main und hast dann in Konstanz, Oxford und Harvard studiert.

Katharina Herkommer: Nach deinem Studium hast du etwa zehn Jahre lang als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für Ausländisches und Internationales Sozialrecht in München gearbeitet.

Katharina Herkommer: Währenddessen hast du an der LMU München promoviert und dich mit einem Habilitationsstipendium des Freistaats Bayern habilitiert.

Katharina Herkommer: Dann folgten Stationen am St. John's College in Sydney in Australien und an der Hertie School in Berlin, bevor du im Jahr 2010 als Professor für Öffentliches Recht und Politik hierher zu uns nach Regensburg gekommen bist.

Katharina Herkommer: Passt alles so?

Alexander Graser: Ja, passt.

Katharina Herkommer: Wunderbar. Wenn man sich deinen Lebenslauf so anschaut, blättert sich da eine beeindruckende internationale Karriere aus Ämtern, Funktionen, Mitgliedschaften in den verschiedensten Gremien auf.

Katharina Herkommer: Bist du da manchmal selber überrascht, wenn du darüber nachdenkst, wie das alles gekommen ist?

Katharina Herkommer: Oder war für dich von Anfang an klar, dass du Rechtswissenschaftler werden möchtest und hast den Plan dann einfach ganz krass durchgezogen?

Alexander Graser: Ich wollte tatsächlich bis kurz vor Studienbeginn Tierarzt werden und hab dann einfach sehr spontan umgeschwenkt auf Rechtswissenschaft.

Alexander Graser: Damit habe ich oft gehadert, weil es viele andere interessante Dinge gibt und das Studium der Rechtswissenschaft auch Geduld braucht.

Alexander Graser: Inzwischen bin ich aber ganz glücklich damit, was ich gemacht habe.

Katharina Herkommer: Weißt du noch, was den Ausschlag gegeben hat, dass du nicht Tierarzt geworden bist?

Alexander Graser: Also ganz konkret ist meine jetzige Frau nach Konstanz gegangen zum Jurastudieren und da konnte man nicht Tiermedizin studieren.

Alexander Graser: Und das fand ich dann eine Anregung, mir das noch mal zu überlegen mit dem Studienfach.

Katharina Herkommer: Wie schön.

Katharina Herkommer: Manchmal ist es auch einfach ein bisschen Zufall, Schicksal, was auch immer.

Katharina Herkommer: Ich habe dich unter anderem hierher in den Podcast eingeladen, weil ich für den Gasthörer ja immer auf der Suche bin nach spannenden Dingen, die hier bei uns an der Uni passieren, von denen ich aber selbst gar nicht so genau weiß, was sie eigentlich sind und wie sie funktionieren.

Katharina Herkommer: Da denke ich dann immer: das will ich jetzt mal genauer wissen und das ist doch bestimmt auch für unsere Hörerinnen und Hörer interessant.

Katharina Herkommer: Und genau so etwas ist die Refugee Law Clinic, die bei dir am Lehrstuhl angesiedelt ist.

Katharina Herkommer: Deshalb gebe ich diese Frage jetzt direkt an dich weiter:

Katharina Herkommer: Was ist denn die Refugee Law Clinic?

Alexander Graser: Das ist ein studentisches Projekt, in dem Studierende an realen Fällen praktische Anwendung von Rechtswissenschaft lernen sollen.

Alexander Graser: Ganz konkret geht es um Flüchtlingsberatung.

Alexander Graser: Also im Bereich des Migrationsrechts im weiten Sinne werden reale Mandantinnen und Mandanten beraten: Die kommen zu uns, suchen Rechtsrat und die Studierenden versuchen, denen so weit wie es möglich ist, weiterzuhelfen.

Alexander Graser: Wir haben dazu eine Anleitungsstruktur, so dass das dann auch immer sachgemäß funktionieren kann, auch wenn die Studierenden noch nicht so weit sein sollten.

Alexander Graser: Aber tatsächlich machen die Studierenden das sehr selbstständig und sehr gut.

Katharina Herkommer: Also das heißt, das kann man, wenn man Jura studiert, während seines ganzen Studiums im Prinzip schon mitnehmen, dieses Projekt?

Alexander Graser: Ja, tatsächlich gibt es zum Teil Studierende im ersten Semester, die mitmachen.

Alexander Graser: Wir haben allerdings in der Beratungsnachfrage auch ein so breites Spektrum, dass man da auch ohne juristische Vorkenntnisse helfen kann.

Alexander Graser: Oft geht es einfach um Behördenkommunikation, erst mal um Vermittlung dessen, was da von einem gewollt ist.

Alexander Graser: Aber natürlich zielt es darauf ab, dass man eben auch spezifisch juristische Kenntnisse anwendet – die erwerben dann die Studierenden am Fall.

Alexander Graser: Und wenn sie schon weiter sind, können sie natürlich dann schon etwas fortgeschrittenere Aufgaben übernehmen.

Alexander Graser: Und die Leute bleiben uns tatsächlich auch bis nach dem Examen treu.

Katharina Herkommer: Und haben diejenigen, die sich dann an die Refugee Law Clinic wenden, dann einen Ansprechpartner oder eine Ansprechpartnerin?

Katharina Herkommer: Oder macht das immer die ganze Gruppe?

Alexander Graser: Also für den Erstkontakt haben wir einfach immer jemanden, der zuständig ist, eine E-Mail-Adresse, die überwacht wird etc.

Alexander Graser: Und dann haben wir ein internes Verteilungssystem.

Alexander Graser: Am Ende ist es dann so, dass die konkrete Fallbearbeitung typischerweise in Teams läuft.

Alexander Graser: In der Regel eben einfach, weil es auch unterschiedliche Aufgaben gibt, erfahrenere Mitarbeitende der Law Clinic dann oft auch mit jüngeren zusammen: Teams von zwei, drei Leuten.

Alexander Graser: Und es gibt darüber hinaus eben wie gesagt immer so eine Beratungsstruktur im Hintergrund von Volljurist/-innen, die dann Bescheid wissen, falls es irgendwelche Rechtsfragen gibt.

Alexander Graser: Wir kooperieren auch mit mit lokalen Anwältinnen und Anwälten, die dann, wenn es denn am Ende mal konfliktiöse Fälle sind, die Fälle theoretisch auch übernehmen können, aber jedenfalls auch schon währenddessen anleiten, wie man zu verfahren hat.

Katharina Herkommer: Aber die Studis sind dann nicht die offiziellen Anwälte oder Anwältinnen von denen, die sich an sie wenden, denn die dürfen ja offiziell noch keinen Prozess führen oder so, oder?

Alexander Graser: Grundsätzlich bräuchte man für die Rechtsverfolgung im Migrationsrecht in den allermeisten Bereichen keine Anwältin oder Prozessvertreter im engen Sinne.

Alexander Graser: Aber tatsächlich ist unser Prinzip, dass wir nicht Prozesse vor Gericht führen – alleine.

Alexander Graser: Die allermeisten Anliegen lassen sich auch anders klären.

Alexander Graser: Es geht im Wesentlichen darum, eben erst mal die Rechtslage zu vermitteln, zu wissen, welche Möglichkeiten die Mandantinnen und Mandanten haben, natürlich auch wo Grenzen sind, was sie nicht erreichen können.

Alexander Graser: Dann geht es darum, in der Behördenkommunikation zu vermitteln.

Alexander Graser: Das ist aber typischerweise noch lange, bevor es zu einem Gerichtsverfahren kommt.

Alexander Graser: Und dann im Nachgang kann es natürlich Fälle geben, die problematischer werden, wo es Gerichtsverfahren gibt.

Alexander Graser: Und da bleiben wir dann oft beratend oder unterstützend dabei, aber das übernehmen Anwältinnen und Anwälte.

Alexander Graser: Einfach weil es zu riskant wäre, in einer solchen studentischen Beratungsstruktur solche Anliegen zu verfolgen.

Alexander Graser: Wir wollen ja nichts falsch machen.

Katharina Herkommer: Damit wir uns das ein bisschen konkreter vorstellen können: hast du ein Beispiel für uns, mit welchen Anliegen sich da jemand an euch wendet?

Alexander Graser: Wir haben die gesamte Breite des Aufenthalts- und Asylrechts.

Alexander Graser: Also, ich kann mal vorlesen, ich habe so ein paar Anfragen –

Alexander Graser: wir haben mir dieses interne Verteilungssystem – ein paar Anfragen mitgebracht.

Alexander Graser: Eine Frau aus Syrien hätte gerne Beratung hinsichtlich "Dublin" und Asylverfahren.

Alexander Graser: Da geht es also darum, wie überhaupt das Verfahren abläuft, ob sie in ein anderes Land der Europäischen Union womöglich zurück muss etc.

Katharina Herkommer: ...Wo sie vielleicht ursprünglich eingereist ist, das ist ja das "Dublin-"....

Alexander Graser: Genau, das ist das, was man mit "Dublin" bezeichnet.

Alexander Graser: Und das ist eben innerhalb des Asylverfahrens häufig ein Thema.

Alexander Graser: Dann eine weitere Anfrage:

Alexander Graser: Ein junger Eritreer braucht eine Anhörungsvorbereitung.

Alexander Graser: Das ist also die Vorbereitung: im Asylverfahren der zentrale Termin ist eben dann die Anhörung von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Alexander Graser: Und da muss man einfach wissen, welche Unterlagen man dabei haben muss, welche Fakten vorgetragen werden müssen, was relevant ist und was nicht etc.

Alexander Graser: Weitere Anfrage:

Alexander Graser: Antrag auf Asyleinerkennung eines Mannes aus dem Irak wurde abgelehnt.

Alexander Graser: Jetzt sucht er rechtliche Beratung.

Alexander Graser: Das ist also dann dieser Übergang: welche Möglichkeiten hat man?

Alexander Graser: Kann man klagen?

Alexander Graser: Hat das überhaupt Sinn?

Alexander Graser: Sollte man es lieber lassen?

Alexander Graser: Das wäre typisch. Dann: eine Iranerin benötigt Hilfe bei der Erteilung einer Arbeitserlaubnis.

Alexander Graser: Auch das haben wir inzwischen natürlich viel.

Alexander Graser: Die Zeit großer Migrationszahlen ist ja schon eine Weile zurück.

Alexander Graser: Das heißt, die Leute sind hier und haben dann eben auch Folgeprobleme: Wie sie am Arbeitsmarkt Zugang finden, die Verstetigung ihrer Aufenthaltsmöglichkeiten, also aus dem Asylverfahren vielleicht dann irgendwann auf Dauer einen Aufenthalt bekommen.

Alexander Graser: Das sind typische Fragen, die wir haben.

Alexander Graser: Wir hatten jetzt auch vor kurzem einen Fall einer afghanischen Studentin, die die Zulassung, an der Uni Regensburg zu studieren, hatte, aber bei der sich die Visa-Erteilung sehr lange gezogen hat und auch da konnten wir dann jetzt helfen.

Alexander Graser: Also das Spektrum ist sehr, sehr breit und vielfältig und natürlich abhängig von den aktuellen Bedürfnissen der Zeit und immer wieder herausfordernd für die Studierenden, weil es natürlich immer wieder neue Fragen sind.

Katharina Herkommer: Das sind nicht nur total vielfältige Anfragen, sondern auch total viele Anfragen, die ihr da bekommt.

Katharina Herkommer: Ist das nur für Leute aus Regensburg und Umgebung oder wenden sich auch Leute von weiter Weg an euch?

Alexander Graser: Grundsätzlich sind wir für alles offen.

Alexander Graser: Es gibt Einzelfälle, wo Leute uns auch wirklich aus ganz anderen Teilen der Republik fragen.

Alexander Graser: Das ist unterschiedlich, aber der Schwerpunkt ist schon Regensburg.

Alexander Graser: Und die Law Clinic hat eben auch ein Teilprogramm, wo sie in die konkreten Ankerzentren geht und berät, also so allgemeine Erstberatungen zur Rechtssituation gibt.

Alexander Graser: Und das ist einer der Momente, wo erste Kontakte stattfinden.

Alexander Graser: Und deswegen sind das eben auch viele Leute vor Ort.

Katharina Herkommer: Woher die Leute dann auch wissen, dass es euch gibt?

Alexander Graser: ja.

Katharina Herkommer: Und ansonsten stünden die mit diesen Problemen einfach alleine da, oder?

Alexander Graser: Naja, technisch gesprochen ist das nichts Ungewöhnliches.

Alexander Graser: Man braucht, wie gesagt, zur Rechtsverfolgung in dem Bereich eigentlich in der Regel formell keine anwaltliche Unterstützung.

Alexander Graser: De facto ist es allerdings so, dass sie natürlich völlig überfordert sind.

Alexander Graser: Die können in der Regel die Sprache nicht und kriegen deutsche Behördenkommunikation.

Alexander Graser: So ist das eben.

Alexander Graser: Sie haben zudem in aller Regel auch überhaupt nicht die Vorstellung davon, wie Rechte durchgesetzt werden.

Alexander Graser: Oft kommen die aus Ländern, wo einfach die Interaktion mit dem Staat ganz anders ist als bei uns.

Alexander Graser: Weniger formalisiert, weniger fristgebunden, häufig auch weniger rechtsstaatlich – es geht um Beziehungen – etc.

Alexander Graser: Also das ist eine kulturell völlig neue Erfahrung.

Alexander Graser: Da gibt es also viele Barrieren.

Alexander Graser: Zudem ist es so, dass die Allermeisten keine finanziellen Mittel haben.

Alexander Graser: Anwaltliche Beratung kostet Geld.

Alexander Graser: Also de facto ist es tatsächlich so, dass für die Allermeisten gilt: wenn sie von uns keine Beratung kriegen, dann würden sie keine Beratung kriegen.

Alexander Graser: Es gibt auch sehr viele, die einfach weiterhin entweder von uns nichts wissen oder die woanders wohnen oder die wir kapazitätsmäßig nicht betreuen können.

Alexander Graser: Das ist ein großes Problem.

Katharina Herkommer: Wenn die sich an euch wenden, ist das aber kostenlos, dass die die Beratung an der Uni kriegen?

Alexander Graser: Ja klar, das ist das Prinzip, natürlich.

Alexander Graser: Also die Idee ist, dass das gänzlich ehrenamtlich passiert.

Katharina Herkommer: Du sagst, es ist gänzlich ehrenamtlich, aber es ist ja an der Uni angesiedelt.

Katharina Herkommer: Also erstens: Warum bietet ihr das als Uni an?

Katharina Herkommer: Und zweitens vielleicht auch ein bisschen: Wie ist das strukturell aufgestellt?

Katharina Herkommer: Ist es komplett ehrenamtlich für die Studis oder haben die da auch noch was davon?

Alexander Graser: Also ehrenamtlich im Sinne von keinerlei Bezahlung, das ist das Erste.

Alexander Graser: Formell ist es schon auch eingebunden in ein Lehrprogramm bei uns.

Alexander Graser: Da gibt es unterschiedliche Modelle deutschlandweit – es gibt ja auch viele Law Clinics anderswo.

Alexander Graser: Wir haben das bewusst so gehalten, dass wir vor allen Dingen möglichst effektiv große Zahlen von guten Beratungen leisten können.

Alexander Graser: Wir haben es weniger als Ausbildungsprogramm konzipiert.

Alexander Graser: Das heißt, das ist jetzt nicht Teil eines Zertifikats, das man erwirbt.

Alexander Graser: Es ist nicht so, dass man Teile der Studienleistungen auf die Weise ersetzen kann.

Alexander Graser: Das ist nur in ganz marginalen Maßen so.

Alexander Graser: Die brauchen praktische Erfahrungen – einen Nachweis – und den können sie auch bei uns bekommen.

Alexander Graser: Aber darum geht es nicht im Wesentlichen.

Alexander Graser: Im Wesentlichen geht es darum, diese Erfahrungen zu bekommen. Und natürlich haben wir parallel dazu ein vielfältiges Programm, was die sachlichen Kenntnisse vermittelt.

Alexander Graser: Aber eben nicht im Sinne von formellen Studienleistungen, die auf die Weise ersetzt werden.

Katharina Herkommer: Was das Ganze den Studierenden bringt, möchten wir natürlich am allerliebsten auch von denen selber hören.

Katharina Herkommer: Und deswegen habe ich mich vor unserer Aufnahme mit einer Mitarbeiterin unterhalten und zwar mit Siri Mertinat und sie ein bisschen über ihre Arbeit in der Refugee Law Clinic ausgefragt.

Katharina Herkommer: Ich sitze jetzt also im Studio mit Siri.

Katharina Herkommer: Hallo Siri, schön, dass du hier bei mir bist.

Katharina Herkommer: Danke, dass du dir die Zeit nimmst.

Siri Mertinat: Hallo, ich freue mich da zu sein.

Katharina Herkommer: Siri, du studierst im 8. Semester Jura und bist schon seit dem 2. Semester bei der Refugee Law Clinic dabei.

Katharina Herkommer: Weißt du noch, warum du damals gesagt hast: "Oh, da möchte ich mitmachen"?

Katharina Herkommer: Was war deine Motivation?

Siri Mertinat: Also, es war, glaube ich, zweiteilig.

Siri Mertinat: Einmal natürlich das Gelernte auch tatsächlich schon ein bisschen anwenden können, weil das natürlich sehr theoretisch ist, das Jurastudium, da ist das natürlich toll für mich: auch eine Chance, das Gelernte anzuwenden.

Siri Mertinat: Und auf der anderen Seite natürlich irgendwie den Menschen helfen zu können, gerade mit dem, was ich lerne.

Siri Mertinat: Da merkt man wirklich jetzt auch in der Fallarbeit, dass man wirklich, tatsächlich helfen kann.

Siri Mertinat: Gerade auch, wenn es knappe Ressourcen gibt – wenig Anwälte, die das machen – ist es natürlich toll, dass wir da denen Hilfe stellen können.

Katharina Herkommer: Hast du gerade einen konkreten Fall – berätst du gerade jemanden?

Siri Mertinat: Ich habe tatsächlich einen sehr langen Fall, der aber immer noch sehr aktuell ist.

Siri Mertinat: Den habe ich tatsächlich seit dem Start – seit dem zweiten Semester läuft der.

Siri Mertinat: Da geht es um einen Familiennachzug.

Siri Mertinat: Ein Eritreer, der anerkannter Flüchtling ist, möchte seine Familie zu sich nach Deutschland holen.

Katharina Herkommer: Und was kannst du da konkret machen?

Katharina Herkommer: Wie kannst du dem helfen?

Siri Mertinat: Also ganz grundsätzlich ist es natürlich so, dass wir ihn einfach allgemein beraten können.

Siri Mertinat: Also wir lesen uns da auch in die Thematik ein.

Siri Mertinat: Gerade auch, weil es nicht so wirklich Teil des normalen Koryphilums ist, haben aber auch so Ausbildungsveranstaltungen.

Siri Mertinat: Und dann kommen wir ein bisschen in die Thematik rein, können ihn dann beraten.

Siri Mertinat: Wir schreiben Anträge, wir haben eine Klage eingereicht.

Siri Mertinat: Das haben wir alles vorformuliert und ihm das dann natürlich alles erklärt.

Siri Mertinat: Und dann hat er es abgeschickt – sowas.

Siri Mertinat: Alles mögliche, wo man eben überfordert sein kann als sowieso erstmal Laie und dann auch noch als jemand, der im deutschen System nicht aufgewachsen ist.

Katharina Herkommer: Wenn du da seit dem zweiten Semester schon dabei warst, wo du ja noch nicht das umfassende hintergründige Wissen hattest, warst du da auch manchmal selber so ein bisschen überfordert?

Siri Mertinat: Da habe ich lustigerweise auch vorhin gerade drüber gesprochen mit dem Team: dass man da glaube ich leicht eingeschüchtert ist.

Siri Mertinat: Gerade als Studi am Anfang.

Siri Mertinat: Man hat natürlich erstmal keine Ahnung eigentlich von Asylrecht.

Siri Mertinat: Also es gibt dann Ausbildungsveranstaltungen, das habe ich ja schon gesagt, aber es kann einen schon so ein bisschen überrumpeln, auch, weil man ja doch eine Verantwortung hat.

Siri Mertinat: Zu sagen, ich bin jetzt diejenige, die dir hilft, dir jetzt rät, das zu machen oder das zu tun.

Katharina Herkommer: Das entscheidet ja auch über seine Familie zum Beispiel.

Siri Mertinat: Genau! Also man kann da natürlich auch Fehler machen. Aber da ist natürlich nochmal, das muss man jetzt schon deutlich betonen, dieser Rückfall auf die Anwälte und Anwältinnen, Professoren, die uns da auf jeden Fall tatkräftig unterstützen.

Siri Mertinat: Man kann sich bei jeder Frage... kann man die nochmal abklären und das ist auch überhaupt nicht tragisch.

Siri Mertinat: Also dafür sind sie genau da und dann liest man es nach und wenn man sich doch nicht sicher ist, fragt man halt nochmal.

Katharina Herkommer: Und man muss sich ja wahrscheinlich auch immer wieder sagen: Wenn ihr denen nicht helfen würdet, dann würde das alles wahrscheinlich noch viel schlechter ablaufen, als wenn ihr mal einen kleinen Fehler macht.

Siri Mertinat: Genau, genau.

Siri Mertinat: Also gerade auch so: ich mein dieses Finanzielle, das ist schon was Krasses.

Siri Mertinat: Also der Arbeitsaufwand, den wir da reinstecken, da würde ein Anwalt schon einiges kosten.

Katharina Herkommer: Der Fall läuft schon seit du angefangen hast und du steckst total viel Zeit und Energie da rein.

Katharina Herkommer: Was hilft dir denn, so bei der Stange zu bleiben oder da weiterzumachen?

Siri Mertinat: Also natürlich ist mein Fall auch ein bisschen ein Sonderfall.

Siri Mertinat: Also Familiennachzüge sind immer langwierige Sachen.

Siri Mertinat: Es gibt auch ganz kurze, knappe Sachen.

Siri Mertinat: Auf der einen Seite natürlich schon: Erfolgserlebnisse motivieren einen dann, wenn man einen Schritt schafft oder dann irgendwie noch mal weitergeht.

Siri Mertinat: Und dass einem das sowieso Spaß macht, im Team zu arbeiten. Die Refugee Law Clinic ist auch einfach, finde ich, ein toller Ort für Freunde, sozial und alles.

Siri Mertinat: Aber du lernst natürlich auch deinen Mandanten kennen.

Siri Mertinat: Also man baut jetzt auch gerade so über diese drei Jahre eine Verbindung auf und diese Geschichte nimmt mich natürlich mit und dann motiviert mich genau das: dass ich will, dass er,... weil er unserer Meinung nach das Recht auf jeden Fall hat, dass seine Familie kommt,... das motiviert mich eigentlich am meisten: dass ich einfach will, dass er seine Familie,... dass die hierher kommen können.

Katharina Herkommer: Meinst du, dass dir diese Arbeit auch was für die spätere Berufswahl bringt?

Katharina Herkommer: Für dein späteres Berufsleben oder so?

Siri Mertinat: Ja, mega viel.

Siri Mertinat: Das kann ich auf jeden Fall sagen.

Siri Mertinat: Ich habe so viel gelernt: fachlich, sozial, über mich und über das deutsche System, das Recht, Gerechtigkeit, was auch immer.

Siri Mertinat: Irgendwie so ein Gefühl dafür bekommen.

Siri Mertinat: Bin da ganz tief eingestiegen.

Siri Mertinat: Also gerade auch in der Berufswahl... weiß ich nicht, es kann mich auf jeden Fall...

Siri Mertinat: Ich habe halt ein bisschen gelernt, wie das wäre, Anwältin zu sein.

Siri Mertinat: Also ich glaube, die Seite habe ich auf jeden Fall gut kennengelernt.

Siri Mertinat: Klar ist es noch mal ein bisschen was anderes, aber da habe ich schon einen Einblick bekommen.

Siri Mertinat: Und das ist schon sehr spannend und wird mich sicherlich auch in meiner Berufswahl dann am Ende beeinflussen.

Siri Mertinat: Ich weiß nicht, wie konkret, aber ich habe auf jeden Fall sehr viel gelernt und kann es allen nur empfehlen. Das ist eine tolle Möglichkeit.

Katharina Herkommer: Alex, wir haben jetzt gerade gehört, dass es den Studis wirklich viel bringt, schon diese ersten praktischen Erfahrungen an der Uni sammeln zu können.

Katharina Herkommer: Dass es eine gute Sache für die Geflüchteten ist, wenn sie hier ehrenamtlich kostenlos beraten werden und Hilfe bekommen, steht ja außer Frage.

Katharina Herkommer: Aber was ich mich gefragt hat, ist eine Art gesellschaftliche Frage sozusagen:

Katharina Herkommer: Warum braucht es denn so was wie eine Refugee Law Clinic an der Uni oder eben gerade auch für Geflüchtete?

Katharina Herkommer: Wie kommt es, dass es notwendig ist, dass ihr euch da engagiert, dass das nicht woanders stattfindet?

Alexander Graser: Das ist tatsächlich wie die meisten gesellschaftspolitischen Fragen eine schwierige.

Alexander Graser: Also es sind natürlich nicht nur Refugee Law Clinics, die solche Beratungsleistungen versuchen zu erbringen in Bereichen, wo sie ansonsten nicht erbracht würden.

Alexander Graser: Wir haben allerdings tatsächlich, glaube ich, ein großes Problem in einigen Sektoren, einigen Rechtsbereichen in Deutschland, was die Chancen angeht –

Alexander Graser: du hast es einleitend gesagt – nicht nur Recht zu haben, sondern auch Recht zu bekommen.

Alexander Graser: Speziell jetzt im Flüchtlingsrecht ist es einfach so, dass für die Leute die Überbrückung der kulturellen Kluft, die sich da auftut zwischen ihren Herkunftsländern und dem, wie das bei uns aussieht, sehr groß ist.

Alexander Graser: Die können die Sprache nicht, sie wissen nicht, welche Rechte sie haben, sie wissen nicht, wie man die durchsetzt.

Alexander Graser: Sie haben häufig auch einfach eine sehr schwere Lebenssituation in der konkreten Zeit, in der sie Recht suchen, haben noch nicht Fuß gefasst, haben keine finanziellen Mittel, etc.

Alexander Graser: Und dann ist unser System darauf ausgelegt, natürlich allen den Zugang zum Recht zu ermöglichen, aber das gelingt halt angesichts solcher praktischer Schwierigkeiten nicht immer.

Alexander Graser: Man braucht dafür schon eben, wie gesagt, gewisse Ressourcen, Geld, Wissen, Sprache, etc.

Alexander Graser: Und dann fällt es natürlich in manchen Bereichen besonders schwer, wo diese Kapazitäten nicht da sind.

Alexander Graser: Also wir haben sehr wenige Anwältinnen und Anwälte, die im Flüchtlingsrecht aktiv sind.

Alexander Graser: Da gibt es nicht so wahnsinnig viel Geld zu verdienen.

Alexander Graser: Das ist eine herausfordernde Tätigkeit, weil auch der Umgang mit den Mandanten natürlich beschwerlicher ist, weil die selbst noch nicht so versiert sind, nicht so viel wissen.

Alexander Graser: Wir haben eine Behördenstruktur, die natürlich unter den großen Immigrationszahlen auch Schwierigkeiten bekommt, das zu bewältigen.

Alexander Graser: Auch das ist in anderen Bereichen, in denen man weniger Fallzahlen hat, leichter zu handhaben.

Alexander Graser: In der Folge bedeutet das einfach, dass es ein sehr großes Umsetzungsdefizit der Rechte gibt, die eigentlich jedem Einzelnen, jeder Einzelnen da gewährt sind.

Alexander Graser: Und Initiativen wie die Refugee Law Clinic können da dazu beitragen, die Lücke zu schließen.

Alexander Graser: Wirklich schließen und das Problem lösen können die die natürlich nicht.

Alexander Graser: Das sind punktuelle Interventionen, in denen man versucht, einem Missstand zumindest teilweise abzuhelfen.

Katharina Herkommer: Es ist kein Zufall, dass die Refugee Law Clinic in deinem Lehrstuhl angesiedelt ist, denn du forschst dort nicht nur im Bereich Migrations-

Katharina Herkommer: und Flüchtlingsrecht, sondern eben auch zu Themen wie Gleichheit und Diskriminierung oder eben Zugang zum Recht.

Katharina Herkommer: Zu dem Thema arbeitest du auch gerade in einem Drittmittelprojekt der Volkswagenstiftung zusammen mit einem Kollegen in Berlin.

Katharina Herkommer: Worum geht es denn da in diesem Projekt?

Alexander Graser: Im Prinzip geht es um die gleichen Fragen, die sich exemplarisch zeigen im Flüchtlingsrecht.

Alexander Graser: Also die Schwierigkeiten für bestimmte Bevölkerungsgruppen in bestimmten Rechtsbereichen, ihre Rechte auch tatsächlich durchzusetzen.

Alexander Graser: Das sind in der Regel vulnerable Gruppen, das können Geflüchtete sein, aber man hat das auch zum Beispiel bei Leuten, die Bürgergeld empfangen, bei Menschen, die pflegebedürftig sind, bei Menschen mit Behinderung.

Alexander Graser: Man hat es sicherlich auch in Krankenhäusern, in Psychiatrien etc.

Alexander Graser: Man hat in sehr vielen Bereichen, wo man marginalisierte, zumindest verwundbare soziale Gruppen hat, dass es schwierig ist, die Rechte, die ihnen eigentlich zugedacht sind, auch tatsächlich zu verwirklichen.

Alexander Graser: Das hat dann oft auch damit zu tun, dass die Leute, selbst wenn sie jetzt keine Sprachprobleme haben, selbst wenn sie hier aufgewachsen sind, einfach nicht die Ressourcen haben, nicht die mentalen Ressourcen, nicht die Energie, sich auf emotional anforderungsreiche Rechtsstreits einzulassen oder auch schon im Vorfeld eines Rechtsstreits ihre Rechte bei Behörden zu vertreten.

Alexander Graser: Und in welchen Fällen man den Eindruck hat, man hat eine Kluft zwischen der gewünschten Rechtsverwirklichung und der tatsächlichen, das ist Gegenstand unseres Forschungsprojekts und eine mögliche Folge könnte eben sein, dass, wenn man mal diese Erkenntnisse hat, ein genaues Bild über die Lage, eine realistische Einschätzung gefunden hat, dass man dann eben sich auch dafür verwenden kann, andere Wege zu finden, diese Rechtsverwirklichung dann auch tatsächlich zu gewährleisten.

Katharina Herkommer: Das heißt, ihr schaut euch jetzt an, wie ist denn der Status quo überhaupt?

Katharina Herkommer: Können alle in Deutschland dieses gleiche Recht, das ihnen im Grundgesetz zugestanden wird, auch wirklich so bekommen?

Katharina Herkommer: Eigentlich ist es doch irgendwie klar... warum braucht es das, es fehlt uns da die Sensibilisierung?

Katharina Herkommer: Also ist das so ein "Known Unknown"?

Alexander Graser: Ja, es ist tatsächlich ein Rätsel, warum wir da nicht besser informiert sind in dem Bereich.

Alexander Graser: Das kann man schon so sagen.

Alexander Graser: Das Eingangszitat hat ja gezeigt, dass diese Grundeinsicht, dass es einiges mehr braucht, um Rechte zu verwirklichen, als sie bloß verbrieft zu haben –

Alexander Graser: das dürfte tatsächlich allen klar sein.

Alexander Graser: Eine Spekulation, eine Hypothese dazu wäre, dass wir in Deutschland einfach sehr selbstbewusst sind und zu Recht lange Zeit waren, denke ich, im Hinblick auf unsere rechtsstaatlichen Strukturen, auch auf die sozialstaatliche Unterstützung, die wir haben.

Alexander Graser: Und da tendiert man dann dazu zu glauben, na ja, wir haben doch ein sehr weit gefächertes rechtsstaatliches System.

Alexander Graser: Wir haben die Institutionen der Prozesskosten- und Beratungshilfe.

Alexander Graser: Vor dem Hintergrund ist es, glaube ich, kein Zufall, dass im internationalen Diskurs in Deutschland einfach sehr wenig über Zugang zum Recht gesprochen wurde und noch immer wenig darüber gesprochen wird.

Alexander Graser: Allerdings, und das ist eben unser Ziel, gibt es durchaus Anlass und nicht nur geringfügigen Anlass, darüber zu sprechen.

Alexander Graser: Woran das genau liegt, ist eben auch etwas, was wir vielleicht noch rausfinden können, und vielleicht ist zu früh, da die Summe zu ziehen, woran es liegt.

Alexander Graser: Ich denke, dass es schon auch ein Phänomen von Verteilungsgerechtigkeit ist und einer sich vielleicht zuspitzenden verteilungspolitischen Situation, wo es eben nicht nur um rein finanzielle Ressourcen geht, sondern eben um die vielen anderen Ressourcen, die man auch braucht: soziale Unterstützung, Zeit, Wissen etc.

Alexander Graser: Jedenfalls zeigen unsere bisherigen Untersuchungen dazu ganz eindeutig, dass es Situationen gibt von Bevölkerungsgruppen, in denen die Rechtsdurchsetzung sehr prekär ist und dass das mit den bestehenden Institutionen in Deutschland nicht hinreichend aufgefangen ist, und dass es Handlungsbedarf gibt.

Alexander Graser: Es gibt allerdings vor dem Handlungsbedarf wahrscheinlich erst mal Forschungsbedarf, um dieses Problem in all seiner Plastizität und auch seinen verschiedenen Ursachen sichtbar zu machen.

Katharina Herkommer: Also habe ich das richtig verstanden: Du sagst, wir in Deutschland sind so stolz auf unser Rechtssystem, dass wir sozusagen gar nicht auf dem Schirm haben, dass trotzdem nicht alles fantastisch läuft und es eben zum Beispiel diese vulnerablen Gruppen gibt, auf die bis jetzt zu wenig Augenmerk gelegt wurde, denen man zu ihrem Recht verhelfen muss.

Alexander Graser: Ja, da hast du's treffend zugespitzt, genau.

Alexander Graser: Ich hatte es vorsichtiger gesagt, aber genau so – das ist eine mögliche Erklärung dafür.

Alexander Graser: Aber gut, das muss spekulativ sein: woher soll man wissen, warum es so ist.

Alexander Graser: Jedenfalls sehen wir, dass es so ist.

Katharina Herkommer: Ihr seid ja gerade erst am Rausschälen des Problems.

Katharina Herkommer: Ihr erstellt die Grundlagen, damit man darüber reden kann und dann eben vielleicht Lösungen suchen.

Katharina Herkommer: Aber hast du denn für dich schon irgendwie einen Weg?

Katharina Herkommer: Was denkst du denn, was bräuchte es denn?

Alexander Graser: Ja, das ist eine schwierige Frage.

Alexander Graser: Es ist wahrscheinlich nur differenzierend zu beantworten, je nach betroffener Gruppe und nach entsprechendem Lebensbereich.

Alexander Graser: Es gibt sicherlich Konstellationen, in denen man überhaupt nicht auf die individuelle Rechtsdurchsetzung setzen kann.

Alexander Graser: Ich nehme mal ein drastisches Beispiel.

Alexander Graser: Menschen in stationärer Pflege haben dort in aller Regel nur noch relativ kurze Zeit zu leben.

Alexander Graser: Eine Zeit, die deutlich kürzer ist im Schnitt, als ein Prozess, ein Gerichtsverfahren dauert.

Alexander Graser: Da scheidet allein die Rechtsdurchsetzung in dem Bereich – wenn man jetzt mal von Eilverfahren absieht – aus.

Alexander Graser: Außerdem sind sie in Situationen, in denen ihnen definitiv die Energie und gesundheitlichen Ressourcen fehlen, um ihre Rechte durchzusetzen.

Alexander Graser: Zudem sind sie in einer sehr abhängigen Konstellation.

Alexander Graser: Es kommt praktisch nicht vor, dass Heiminsassen gegen Heime klagen, jetzt mal völlig unabhängig von der Frage, wann das berechtigt oder sinnvoll wäre.

Alexander Graser: Also man kann sich vorstellen, in solchen Konstellationen ist ein System, was auf individuelle Rechtsdurchsetzung setzt –

Alexander Graser: also ein Gesetz, das sagt, diesen Anspruch hast du und wenn er nicht erfüllt wird, dann geh doch zu Gericht... –

Alexander Graser: das kann da nicht funktionieren.

Alexander Graser: Da braucht man andere Kontrollmechanismen.

Alexander Graser: Das ist nicht ganz so kategorisch so im Bereich der Situation von Geflüchteten.

Alexander Graser: Die können in bestimmten Umständen sicherlich schon Rechte durchsetzen.

Alexander Graser: Man kann denen da also schon sehr viel mehr Freiheit und eigene Akteursrolle belassen.

Alexander Graser: Aber man wird wahrscheinlich eine deutlich aufsuchendere Hilfe brauchen, als wir das im Moment haben, wo man im Prinzip einfach sagt, such dir eine Anwältin, such dir einen Anwalt, beantrag entsprechende Hilfen für den Prozess.

Alexander Graser: Das scheint aufgrund der skizzierten Probleme dort nicht zu funktionieren.

Alexander Graser: Ganz anderer Bereich jetzt: Bürgergeld.

Alexander Graser: Da ist schon der Behördenkontakt unglaublich schwierig.

Alexander Graser: Einfach weil die Behörden wahnsinnig belastet sind, weil man kaum direkten Kontakt zu den Sachbearbeitenden hat, auch natürlich mit einer Bevölkerungsgruppe zu tun hat, die in der Regel in sehr schweren Lebensumständen ist und deswegen nicht so wahnsinnig viele Ressourcen für Rechtsverfolgung aufbringen kann.

Alexander Graser: Da wird man wahrscheinlich irgendwo so dazwischen versuchen müssen, vielleicht jetzt nicht unbedingt auf der gerichtlichen Schiene anzusetzen, aber die Behörden-Interaktionen anders zu gestalten.

Alexander Graser: Also, was ich sagen will: Es ist letzten Endes wirklich ein komplexes Problem, das differenzierte Antworten braucht – je nach Bevölkerungsgruppe.

Alexander Graser: Wahrscheinlich wird man verallgemeinernd schon das eine oder andere sagen können, eine Summe ziehen am Ende in der Betrachtung.

Alexander Graser: Wahrscheinlich wird es gewisse Grundmaßnahmen geben, die vielen Gruppen helfen, aber naja, dafür haben wir ja jetzt ein bisschen Zeit, das rauszufinden.

Katharina Herkommer: Wir sind ja an der Uni, an der auch Lehre stattfindet und wo es um die Ausbildung einer neuen Generation von Juristinnen und Juristen geht.

Katharina Herkommer: Ist das auch ein Punkt, der vielleicht in Zukunft helfen kann, dass, wenn die jungen Leute jetzt zum Beispiel bei sowas wie der Refugee Law Clinic mitarbeiten, dass die ein anderes Bewusstsein haben und sich eben nicht hinstellen und sagen, "Bei uns in Deutschland, da ist ja eh alles super"?

Alexander Graser: Ja, in vielerlei Hinsicht ist das tatsächlich eine Hoffnung, die ich hege: dass also über dieses Projekt und natürlich ähnliche Bemühungen in der Lehre langfristig die größten Effekte dadurch erzielt werden, dass die Studierenden Bescheid wissen über Lebenslagen, über reale Umsetzungsmöglichkeiten im Recht, aber auch Einblicke in Rechtsgebiete kriegen, die ansonsten eben nicht Gegenstand der Ausbildung wären.

Alexander Graser: Und die Hoffnung – die bescheidene Hoffnung – von der Uni aus vielleicht irgendeinen nachhaltigen Effekt in der Szene zu haben, ruht schon auch sehr darauf, dass einfach die jungen Leute andere Einblicke kriegen, andere Erfahrungen sammeln.

Katharina Herkommer: Die Refugee Law Clinic ist deshalb nicht das einzige Praxisprojekt, das es an eurem Lehrstuhl für die Studierenden gibt.

Katharina Herkommer: Es gibt auch noch die Strategic Litigation Unit.

Katharina Herkommer: Bevor wir darüber sprechen, was dort passiert, dröseln wir das erstmal ein bisschen auf.

Katharina Herkommer: Für alle Nichtjuristinnen und Nichtjuristen, was ist denn strategic litigation?

Alexander Graser: Ja, das ist eine berechtigte Frage.

Alexander Graser: Zunächst einmal übersetzt einfach "Strategische Prozessführung".

Alexander Graser: Allerdings ist das zwar gängige Wort etwas unglücklich insofern, als natürlich Prozessführung immer strategisch in dem Sinne ist, dass die Prozessführenden ihre Erfolgsaussichten maximieren wollen.

Alexander Graser: Das ist hier aber nicht gemeint.

Alexander Graser: Was hier strategisch ist, ist der Umstand, dass man überhaupt zum Gerichtsverfahren als Mittel der Interessendurchsetzung in einem konkreten Fall greift.

Alexander Graser: Die Idee dahinter ist, dass man über den – und das ist vielleicht auch die beste Definition für strategische Prozessführung – dass man über den innerprozessualen Erfolg, also Gewinnen, den Anspruch realisieren, dass man darüber hinaus noch andere Ziele mit dem Verfahren verfolgt, also einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen, aufmerksam machen auf Missstände, einfach den Berechtigten eine Stimme verleihen, öffentlich gehört zu werden in ihrem Anliegen und auch in ihrer Rechtsverletzung.

Alexander Graser: Insofern ist strategische Prozessführung – strategic litigation – ein Instrument, was so an der Schnittstelle zwischen dem genuin-juristischen und eben der Politik anzusiedeln ist.

Katharina Herkommer: Ist das was, was jetzt gerade so en vogue ist oder gibt es das schon lange, dieses Phänomen?

Alexander Graser: Strategic litigation ist im Prinzip ein Phänomen, das es in anderen Ländern schon sehr lange gibt und auch unter dieser Bezeichnung und mit diesem Bewusstsein verfolgt und praktiziert wird.

Alexander Graser: In Deutschland ist es ein relativ junges Phänomen, auch nicht mehr ganz frisch.

Alexander Graser: Es gibt NGOs, die das primär zu ihrer Tätigkeit gemacht haben, schon so seit 15, 20 Jahren in Deutschland.

Alexander Graser: Wenn man konkret dahinterblickt, sieht man, dass das vorher auch schon – nicht unter dem Namen, aber vorher auch schon vorgekommen ist.

Alexander Graser: Aber man kann durchaus sagen, dass das inzwischen ein sich auch in Deutschland verbreitendes Phänomen ist.

Katharina Herkommer: Also man klagt, aber es geht nicht nur ums Gewinnen, sondern es geht darum, auch durch diesen Prozess zum Beispiel Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken oder Leuten ins Bewusstsein zu rufen, dass es da Missstände gibt.

Katharina Herkommer: Habe ich das richtig verstanden?

Alexander Graser: Ja, genau, genau.

Alexander Graser: Und das ist natürlich auch gerade so die Schwierigkeit im Beschreiben dieses Phänomens, weil praktisch alle, die solche Verfahren anstrengen, schon auch gewinnen wollen.

Alexander Graser: Man macht das in der Regel nicht ohne das Ziel, vor Gericht auch zu obsiegen am Ende.

Alexander Graser: Allerdings sind, je nachdem, um welchen konkreten Bereich es sich handelt, die Erfolgsaussichten im Prozess mitunter auch gering.

Alexander Graser: Und man würde sagen, na ja, so ein Prozess würde nicht geführt werden, wenn es nicht noch um Weiteres ginge.

Alexander Graser: Insofern, in der Tat:

Alexander Graser: Es kommt ganz zentral hinzu, dass man über das Prozessziel hinaus noch mehr erreichen will.

Alexander Graser: Eben auch wenn man verliert, damit exponieren, dass es eine besonders ungerechte Rechtslage ist, vielleicht anstoßen, dass sich dann gesetzlich was ändert daraufhin.

Alexander Graser: Manchmal auch einfach, wenn es um besondere Menschenrechtsverletzungen geht, den Betroffenen Gehör verleihen.

Alexander Graser: Aber mitunter werden solche Prozesse auch gewonnen.

Alexander Graser: Und dann geht es einfach um die – im Englischen – die "Landmark Decisions", die man erreicht hat.

Alexander Graser: Also die Grundsatzurteile, die dann auch wirklich eine Veränderung innerhalb des Rechtssystems bringen.

Katharina Herkommer: Du hast gerade von Menschenrechtsverletzungen gesprochen, von NGOs, also Nichtregierungs-Organisationen.

Katharina Herkommer: Sind das Sachen, die sich eben in so einem gesellschaftlichen Bereich abspielen?

Katharina Herkommer: Hast du vielleicht ein paar konkrete Beispiele für uns für solche Prozesse?

Alexander Graser: Ja, es ist sehr vielfältig, aber ich versuche mal, mit dem am meisten zitierten Beispiel zu beginnen:

Alexander Graser: Das ist nicht zufällig eins aus den USA, weil dort die Praxis der strategic litigation schon länger verwurzelt ist.

Alexander Graser: Da gab es 1954 ein Urteil des Supreme Court, in dem die Rassentrennung im Prinzip beseitigt wurde.

Alexander Graser: Und dieses Urteil war von schwarzen Bürgerrechtsbewegungen lange verfolgt worden, das Verfahren wurde bis zum Supreme Court getragen und hat dort sehr spektakulär Erfolg gehabt und eingeleitet, dass sich in den USA diese Umstände geändert haben, die Segregation zumindest rechtlich beseitigt wurde.

Alexander Graser: Wir wissen, dass natürlich auch heute noch Rassendiskriminierung ein Thema dort ist.

Alexander Graser: Aber wesentliche Fortschritte wurden dadurch erzielt.

Alexander Graser: Ganz illustrativ dazu ist, wenn man sich die Vorgeschichte dessen anschaut:

Alexander Graser: 60 Jahre vor diesem Urteil war was sehr Ähnliches passiert.

Alexander Graser: Auch da haben schwarze Kläger versucht, die Rassentrennung zu beseitigen.

Alexander Graser: Sie sind auch damals schon bis zum Supreme Court gelangt.

Alexander Graser: Und sie haben verloren seinerzeit.

Alexander Graser: Das war Ende 19. des Jahrhunderts.

Alexander Graser: Da war die Zeit dafür noch nicht reif.

Alexander Graser: Und in der Rückschau sieht man – ganz typisch für strategic litigation – dass die Wirkungen dieses Bemühens nicht immer darin bestehen, dass man unmittelbar vor Gericht gewinnt.

Alexander Graser: Manchmal dauert es, wie in dem Fall, 60 Jahre, bis der entsprechende gesellschaftliche Wandel erreicht wird.

Alexander Graser: Aber man kann in der Rückschau schon auch sagen, dass dieses erste Verfahren, das Ende des 19.

Alexander Graser: Jahrhunderts stattgefunden hat, bahnbrechend war.

Alexander Graser: Es gab damals schon einen Supreme Court-Richter, der eine abweichende Meinung geschrieben hat und eben das Ganze sehr gebranntmarkt hat als diskriminierend.

Alexander Graser: Und darauf wurde in der Folgezeit immer wieder Bezug genommen.

Alexander Graser: Das illustriert ganz gut, dass es bei den strategischen Verfahren oft auch, wenn man nicht gewinnt, Erfolge gibt, die darin bestehen können, dass man Geschichten öffentlich gemacht hat, Ungerechtigkeiten öffentlich gemacht hat und erzählbar gemacht hat, die dann also von anderen in Bezug genommen werden und die dann zur Grundlage von weiteren Bürgerrechtsbewegungen werden können.

Katharina Herkommer: Und dann im Idealfall, wenn die Klagenden gewinnen, aber vielleicht auch einfach schon durch die Aufmerksamkeit, die durch so einen Prozess generiert wird, kann ein Wandel in der Gesellschaft passieren, jetzt gerade wie bei der Rassentrennung oder...

Alexander Graser: Klimaschutz, das ist ein gutes Beispiel in Deutschland, das tatsächlich eine Änderung bringt.

Katharina Herkommer: Spannende Sache.

Katharina Herkommer: Was macht jetzt die Strategic Litigation Unit an der Uni Regensburg?

Alexander Graser: Na ja, sie führt strategische Verfahren.

Alexander Graser: Aber ich erläutere das sehr gerne noch ein bisschen konkreter.

Alexander Graser: Die Strategic Litigation Unit ist im Prinzip aus der Refugee Law Clinic entstanden.

Alexander Graser: Ich hatte eingangs ja gesagt: Wir haben in der Refugee Law Clinic das Prinzip, nicht vor Gericht zu gehen in der Regel, und allenfalls, wenn mal besonders schwierige Verfahren da sind, das dann mit zu begleiten.

Alexander Graser: Es gab in der Praxis aber immer wieder Fälle der Refugee Law Clinic, wo wir dachten, na ja, das ist so ein grundlegendes Problem.

Alexander Graser: Das sollte eigentlich auch mal gerichtlich geklärt werden, damit das für andere Fälle eben auch geklärt ist und dann die entsprechende Rechtslage sich insofern weiterentwickeln kann.

Alexander Graser: Und so hat sich ergeben, dass sich dann sozusagen eine Abspaltung der besonders erfahrenen, oft auch noch engagierteren Studierenden gebildet hat, die dann mit betreuenden Anwältinnen und Anwälten diese Verfahren verfolgt haben.

Alexander Graser: Und vor inzwischen schon fünf Jahren hat sich das so weit verselbstständig, dass wir eine eigene Strategic Litigation Unit haben.

Alexander Graser: Das ist jetzt ein Programm, wo sich jedes Jahr Studierende bewerben können.

Alexander Graser: Eine Gruppe von in der Regel zehn, zwölf Leuten.

Alexander Graser: Viele davon sind auch schon nach dem Examen.

Alexander Graser: Die haben oft als fortgeschrittene Studierende angefangen und sind dann dabeigeblieben.

Alexander Graser: Und die behandeln dann einen oder mehrere größere Fälle.

Alexander Graser: Ursprünglich hatten wir das, wie gesagt, aus dem Fallrepertoire der Refugee Law Clinic.

Alexander Graser: Inzwischen werden auch andere Fälle an uns herangetragen.

Alexander Graser: An Arbeit mangelt's nicht, sagen wir so, in dem Bereich.

Katharina Herkommer: Und das sind dann zum Teil eben auch Leute, die als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen, wissenschaftliche Mitarbeiter bei euch in der Fakultät arbeiten?

Alexander Graser: Genau, oft sind es Promovierende, Leute, die gerade im Examen sind oder fortgeschrittene Studierende.

Katharina Herkommer: Mit welchem Fall beschäftigt ihr euch dann jetzt da gerade konkret?

Alexander Graser: Ganz aktuell haben wir einen sehr großen Fall, den größten, den wir bisher hatten.

Alexander Graser: Das betrifft den Staudammbruch von Brumadinho in Brasilien.

Alexander Graser: Das war Ende Januar 2019.

Alexander Graser: Eine große Katastrophe, die auch durch die Medien weltweit gegangen ist, da ist ein Staudamm gebrochen, der vom Bergbauunternehmen Vali betrieben wurde, dessen Damm – so die Auffassung der Klagenden in dem Fall – nicht sicher war.

Katharina Herkommer: Ein brasilianisches Bergbauunternehmen...

Alexander Graser: Ein brasilianisches Bergbauunternehmen, genau.

Alexander Graser: Aus Minas Gerais in Brasilien.

Alexander Graser: Und es sind 270 – ein bisschen mehr sogar – Menschen ums Leben gekommen, dabei verschüttet durch den Dammbruch.

Alexander Graser: Und in der Folge hatten sich viele Prozesse entsponnen.

Alexander Graser: Natürlich gibt es strafrechtliche Aufarbeitung, es gibt auch zivilrechtliche, also es geht um Schadensersatzforderungen.

Alexander Graser: Und die werden vor allem natürlich in Brasilien geltend gemacht, aber inzwischen eben auch in Deutschland.

Alexander Graser: Deswegen, weil dieser Damm von einem deutschen Unternehmen – dem TÜV Süd – zertifiziert worden ist.

Alexander Graser: Und die Behauptung bei dem Schadensersatzprozess hier in Deutschland ist eben, dass der TÜV Süd bei der Zertifizierung nicht sorgfältig genug war.

Katharina Herkommer: Und was ist eure Forderung oder wofür streitet ihr jetzt?

Alexander Graser: Die Strategic Litigation Unit begleitet das Verfahren von 180 Klagenden, das sind Angehörige der Verstorbenden aus Brasilien.

Alexander Graser: Es gibt da eine Opferorganisation, die dazu einfach nötig war, dass sich die Angehörigen überhaupt miteinander koordinieren können in ihrer Rechtsverfolgung.

Alexander Graser: Dann gibt es eine Kanzlei in Brasilien, die das unterstützt, weitgehend ehrenamtlich, weil die Opfer gar nicht das Geld dafür haben.

Alexander Graser: Dann gibt es deutsche Anwälte, die auch wiederum weitgehend ehrenamtlich die Brasilianer dabei unterstützen.

Alexander Graser: Und dann gibt es uns, die Strategic Litigation Unit, die diese Akteure unterstützen.

Alexander Graser: Ganz konkret hat sich der deutsche Anwalt Rüdiger Helm, der das federführend macht, an uns gewandt.

Alexander Graser: Einfach um die Ressourcen, die zusätzliche Man-and-Woman-Power, die wir da haben, mit einzubringen.

Alexander Graser: Solche Verfahren sind unglaublich aufwendig.

Alexander Graser: Und das zu stemmen ist schon für uns eine riesige Aufgabe.

Alexander Graser: Für einzelne allein wäre das einfach zu viel.

Katharina Herkommer: Also es geht darum, TÜV Süd in die Verantwortung zu nehmen, zu sagen: okay, ihr könnt nicht sagen, das haben die da gebaut und ist deren Problem in Brasilien, sondern ihr seid mitverantwortlich und müsst eventuell zum Beispiel Schadensersatz an die Opferangehörigen zahlen.

Alexander Graser: Ja, ganz konkret geht es darum, dass Schadensersatz gefordert wird und es ist eine Reihe komplizierter rechtlicher Fragen, die ich wahrscheinlich im Detail jetzt hier nicht erörtern sollte.

Alexander Graser: Ganz konkret geht es darum, ob die hiesige Rechtsperson TÜV Süd in Deutschland dafür haftet, denn die konkreten Akteure waren eine selbstständige Rechtsperson, ein Büro in Brasilien.

Alexander Graser: Und die Frage ist, ob eben einmal gesellschaftsrechtlich der Mutterkonzern TÜV Süd dafür haftet.

Alexander Graser: Die Frage ist auch, ob überhaupt da Sorgfaltspflichtverletzungen stattgefunden haben.

Alexander Graser: Die Frage ist auch, welches Recht überhaupt Anwendung findet, welches die Maßstäbe sind.

Alexander Graser: Sehr komplexe Fragen des internationalen Haftungsrechts.

Alexander Graser: Aber wir sind sehr zuversichtlich, dass es sich lohnt, die vor Gericht zu thematisieren und dass es jedenfalls ein sehr berechtigtes Anliegen ist, dass die Klagenden verfolgen.

Katharina Herkommer: Eine sehr wichtige Sache und vor allem, glaube ich, auch eine sehr spannende Sache für die jungen Juristinnen und Juristen.

Katharina Herkommer: Auch in dem Fall wollte ich natürlich wieder wissen, wie das ist, wenn man bei so einem Riesenfall mitarbeiten kann.

Katharina Herkommer: Und dafür habe ich mich mit Elisabeth Rauh getroffen.

Katharina Herkommer: Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin bei dir am Lehrstuhl, Alex, und seit einigen Jahren in der Strategic Litigation Unit mit dabei.

Katharina Herkommer: Hören wir mal rein, was sie von ihrer Arbeit dort erzählt.

Elisabeth Rauh: Ich war eben seit meinem ersten Semester schon Mitglied in der Refugee Law Clinic.

Elisabeth Rauh: Und dann hatten wir schon dort das erste Projekt.

Elisabeth Rauh: Da ging es um Kinder in Transitzentren, die in die normale Schule gehen sollten und nicht nur irgendwie so dort vor Ort in die Schule gehen.

Elisabeth Rauh: Das war so unser erstes strategisches Projekt quasi.

Elisabeth Rauh: Und dann kam später eben die Strategic Litigation Unit.

Elisabeth Rauh: Und ich mochte das immer sehr gern.

Elisabeth Rauh: Wir waren ein bisschen ein kleineres, eingeschweißtes Team dann.

Elisabeth Rauh: Und wir sind auch alle irgendwie miteinander befreundet.

Elisabeth Rauh: Das macht halt immer super Spaß, wenn wir uns treffen.

Elisabeth Rauh: Und gleichzeitig hat man halt wirklich das Gefühl, man bewegt was für die Menschen, für die wir arbeiten.

Katharina Herkommer: Bei den Prozessen geht es ja nicht nur um den Prozess selber.

Katharina Herkommer: Das ist ja das Strategische daran, habe ich gelernt.

Katharina Herkommer: Hast du das Gefühl, dass ihr tatsächlich mit diesem Prozess irgendwas ausrichten könnt?

Elisabeth Rauh: Ja, das kommt wirklich jetzt so ein bisschen auf den Fall an.

Elisabeth Rauh: Aber ich weiß einen Fall, der mir sehr am Herzen lag, den wir mal bearbeitet haben.

Elisabeth Rauh: Da ging es um einen Familiennachzug.

Elisabeth Rauh: Also auch flüchtlingsrechtlicher Kontext.

Elisabeth Rauh: Eine Mutter, die ihr Kind aus Nigeria herholen wollte – schon sehr, sehr lange, viele Jahre hat sie das versucht und ist immer wieder an irgendwelchen bürokratischen Hürden gescheitert.

Elisabeth Rauh: Und wir haben uns da richtig reingehängt, haben dann Klage eingereicht vor dem Verwaltungsgericht in Berlin, haben da viele Schriftsätze geschrieben, haben viel Kontakt aufgenommen mit der Botschaft.

Elisabeth Rauh: Und letztlich haben wir es dann auch wirklich geschafft.

Elisabeth Rauh: Wir haben dann einen Vergleich abgeschlossen mit dem Auswärtigen Amt.

Elisabeth Rauh: Und dann haben wir auch noch daran gearbeitet, dass das Kind auch wirklich hier ankommt.

Elisabeth Rauh: Wir haben dann den Flug für ihn gebucht.

Elisabeth Rauh: Und zwei Kolleginnen von mir haben den dann gemeinsam mit der Mutter am Flughafen abgeholt.

Elisabeth Rauh: Also da ist es am einfachsten zu sagen: Wir hatten wirklich eine Auswirkung auf sein Leben.

Elisabeth Rauh: Der hätte wahrscheinlich ohne uns seine Mutter nicht wiedergesehen.

Elisabeth Rauh: Der wäre dort geblieben.

Elisabeth Rauh: Denn da braucht es oft viele Menschen, die sich da wirklich auch dahinter klemmen und die auch einen langen Atem haben.

Elisabeth Rauh: Man braucht eine unglaublich hohe Frustrationstoleranz, weil man so oft gegen Wände rennt.

Elisabeth Rauh: Und das war zum Beispiel ein Fall, wo man es ganz eindeutig gespürt hat:

Elisabeth Rauh: Also für diese Familie haben wir jetzt wirklich einen Unterschied gemacht.

Elisabeth Rauh: Wir haben dafür gesorgt, dass der jetzt wieder bei seiner Mutter ist.

Elisabeth Rauh: Also wir haben jetzt einen Unterschied gemacht.

Katharina Herkommer: Und was ist das Strategische daran?

Katharina Herkommer: Also du sagst, es hat einen Unterschied gemacht für die Familie.

Katharina Herkommer: Aber hat es tatsächlich irgendwie auch was ins Rollen gebracht?

Elisabeth Rauh: Das ist, denke ich, das noch Schwierigere.

Elisabeth Rauh: Dass man auch wirklich einen größeren Einfluss hat. Mit dem Familiennachzug und der tatsächlichen Umsetzung – dass die oft irgendwie scheitert –

Elisabeth Rauh: das ist natürlich nicht nur bei der Familie ein Problem, sondern bei vielen Familien.

Elisabeth Rauh: Und wir haben natürlich dann versucht, über den Fall zu sprechen und das in die Öffentlichkeit zu tragen und so weiter.

Elisabeth Rauh: Der krass große Effekt ist natürlich schon so ein bisschen ausgeblieben, was auch schon daran liegt, wie das Auswärtige Amt so arbeitet.

Elisabeth Rauh: Die vergleichen sich dann zum Beispiel immer, so dass es keinen Urteil gibt, das dann Wirkung hätte für weitere Fälle.

Elisabeth Rauh: Die haben da so ein bisschen ihre Strategien.

Elisabeth Rauh: Gerade beim Familiennachzug ist man natürlich da total emotional gebunden.

Elisabeth Rauh: Keine Mutter sagt: "Okay, ich warte jetzt noch drei Jahre, bis der Prozess ganz durch ist und kämpfe mich durch die Berufung durch".

Elisabeth Rauh: Dann sehe ich mein Kind erst fünf Jahre später.

Elisabeth Rauh: Das macht keiner.

Elisabeth Rauh: Das heißt, es war ein bisschen schwierig.

Elisabeth Rauh: Wir hätten uns natürlich einen Urteil gewünscht

Elisabeth Rauh: – das wäre der Traum gewesen...

Katharina Herkommer: Auf das sich dann andere wieder berufen können?

Elisabeth Rauh: Auf das sich dann andere Fälle wieder berufen können, das dann wirklich schon eine rechtliche Wirkung auch für weitere Fälle hat.

Elisabeth Rauh: So ist es jetzt dabei geblieben, dass wir die Geschichte erzählen können und Mut machen können:

Elisabeth Rauh: Man kann es schaffen, wenn man sich dahinter klemmt.

Elisabeth Rauh: Man kann Zugang zum Recht für die Leute schaffen.

Elisabeth Rauh: Man muss sich das nicht gefallen lassen.

Elisabeth Rauh: Man kann gegen die auch gewinnen.

Elisabeth Rauh: Die dürfen nicht einfach machen, was sie wollen.

Elisabeth Rauh: Das können wir nach außen tragen.

Elisabeth Rauh: Das Perfekte wäre wahrscheinlich ein Urteil gewesen.

Elisabeth Rauh: Das kann man leider nicht immer erreichen.

Katharina Herkommer: Du arbeitest jetzt an diesem großen Fall mit dem Staudamm in Bromadinho mit.

Katharina Herkommer: Wie sieht es aus, wenn du dich da reinkniest:

Katharina Herkommer: Was machst du konkret?

Elisabeth Rauh: Wir arbeiten an Schriftsätzen mit.

Elisabeth Rauh: Und zwar schreiben wir dann oft nicht den ganzen Schriftsatz.

Elisabeth Rauh: Sondern wir kriegen dann eher so eine Aufgabe zugeteilt für ein bestimmtes rechtliches Problem oder auch ein sachliches Problem, zu dem wir dann recherchieren sollen und dann auch was dazu schreiben sollen.

Katharina Herkommer: Das heißt, ihr habt kleine Puzzleteile oder Mosaikstückchen, die ihr zu dem ganzen zufügt?

Elisabeth Rauh: Genau.

Elisabeth Rauh: Und was wir dann auch noch machen, ist auch Öffentlichkeitsarbeit.

Elisabeth Rauh: Wir haben zum Beispiel eine Instagram-Seite seit einer Weile für die Strategic Litigation Unit.

Elisabeth Rauh: Und da reden wir dann zum Beispiel auch über den Fall.

Katharina Herkommer: Und wie ist es für dich, bei so einem großen Prozess dabei zu sein?

Katharina Herkommer: Du bist ja noch sehr jung.

Katharina Herkommer: Du hast vor zwei Jahren, glaube ich, deinen Examen gemacht.

Elisabeth Rauh: Ja, genau. Das ist richtig cool auf jeden Fall!

Elisabeth Rauh: Natürlich hat es manchmal auch etwas Überforderndes.

Elisabeth Rauh: Das ist ein großes Verfahren.

Elisabeth Rauh: Man hat nie so richtig das Gefühl, dass man alles weiß über den Fall.

Elisabeth Rauh: Die Stiftsätze sind hunderte von Seiten lang.

Elisabeth Rauh: Man hat die mal gelesen und liest immer wieder rein.

Elisabeth Rauh: Aber man hat nie so 100% das Gefühl, dass man den Überblick hat.

Elisabeth Rauh: Also so geht es mir zumindest.

Elisabeth Rauh: Aber ich finde es trotzdem eine unglaublich tolle Erfahrung, mal bei so einem richtig großen Verfahren wirklich live dabei zu sein und auch wirklich was machen zu dürfen.

Elisabeth Rauh: Nicht nur irgendwie zuschauen zu dürfen, sondern zu sagen, okay, wir haben da mitgeschrieben, wir sind da dabei und arbeiten da mit.

Elisabeth Rauh: Das finde ich richtig cool.

Elisabeth Rauh: Eine Erfahrung, die man nicht immer im Jurastudium machen kann. Es ist schon eine sehr besondere Chance, die wir da haben, würde ich sagen.

Katharina Herkommer: Und jetzt sind wir wieder hier im Studio mit Professor Alexander Graser.

Katharina Herkommer: Wie ist es denn für euch?

Katharina Herkommer: Es ist ja auch für euch Professorinnen und Professoren ein großer Aufwand, oder?

Alexander Graser: Ja, natürlich.

Alexander Graser: Wobei, sagen wir mal so, vor allen Dingen ist es auch für mich so, dass ich da extrem viel lernen kann, denn ich bin eigentlich Hochschullehrer und nicht Anwalt.

Alexander Graser: Und insofern gibt es ganz viele Bereiche, zu denen ich mich auch schlicht nicht auskenne.

Alexander Graser: Man sollte dazu sagen, dass die Strategic Litigation Unit so auch nur funktionieren kann, weil wir professionell angeleitet werden.

Alexander Graser: Christoph Lindner, früherer Doktorand der Uni Regensburg und inzwischen Anwalt in Rosenheim, leitet das seit Jahren als Lehrbeauftragter.

Alexander Graser: Und Christoph ist zum einen einfach der Fachmann, der alles strategische Prozessuale da dabei hat und zum anderen ein unglaublicher Motivator.

Alexander Graser: Also diese Gruppe und dieses Engagement so zusammenzuhalten erfordert viel und ist ein großes Verdienst von ihm.

Alexander Graser: Und ohne das ginge das nicht.

Alexander Graser: Vom Aufwand her könnte ich das auch nicht leisten, aber auch schon von der Expertise her nicht.

Katharina Herkommer: Und es ist ja schon auch ein bisschen so David gegen Goliath, oder?

Katharina Herkommer: Wenn da zwölf Studis mal eben TÜV Süd verklagen, so ungefähr?

Alexander Graser: Ja, also das Netzwerk auf unserer Seite ist natürlich größer.

Alexander Graser: Wir sind da nur ein kleiner Teil in dem Netzwerk und trotzdem sind wir wirklich in der Rolle des David da.

Alexander Graser: Also wenn man es konkret machen will, der TÜV Süd hat einen zweistelligen Millionenbetrag an Rechtsverfolgungskosten da aufzubringen, bedient sich einer der teuersten Kanzleien Deutschlands mit Stundensätzen von um die 1.000 Euro, würde ich schätzen.

Alexander Graser: Ich hab's mal kalkuliert: Wenn all unsere Klagenden, 180 Personen aus Minas Gerais, nehmen wir mal an, das Durchschnittseinkommen von 300 bis 400 Dollar dort verdienen. Wenn die das alle kontinuierlich vollständig in Rechtsverfolgung investieren würden, könnten sie sich halbtags einen unserer Gegneranwälte leisten.

Alexander Graser: Das illustriert, was da...

Katharina Herkommer: Das ganze Gehalt zusammen von allen Klägern...

Alexander Graser: Von allen Klagenden kontinuierlich einen Halbtagsanwalt der Gegenseite.

Alexander Graser: Das ist schon ein immenses Gefälle.

Alexander Graser: Und das geht nur, indem sehr, sehr viele Ressourcen zusammengebracht werden.

Alexander Graser: Und das studentische Engagement ist da unbezahlbar.

Alexander Graser: Ich glaube, umgekehrt ist es für die Studierenden auch ganz motivierend zu sehen, dass die es wirklich mit einem großen Gegner aufnehmen.

Alexander Graser: Und das, glaube ich, inspiriert dann auch zu der ein oder anderen durchgearbeiteten Nacht und vielen Recherchen und sehr gehetzten Schriftsatz-Frist-Arbeiten etc.

Alexander Graser: Es ist schon eine intensive Erfahrung, aber ich glaube, es lohnt sich.

Katharina Herkommer: Kommen wir mal wieder ein bisschen zurück zu dir persönlich.

Katharina Herkommer: Als ihr damals gesagt habt: "Okay, das machen wir als Thema für die Strategic Litigation Unit", hast du gesagt: "Yay, super, das machen wir!", oder warst du eher zögerlich?

Alexander Graser: Ne, das war schon klar, dass wir das machen.

Alexander Graser: Man weiß vorher natürlich, selbst wenn man... – Ich hatte von dem Verfahren gehört, aber ich hatte keinen näheren Einblick.

Alexander Graser: Außerdem entwickeln sich solche Verfahren auch immer in einer Weise, die man nicht so voll absieht.

Alexander Graser: Also wir hätten wahrscheinlich oder ich zumindest hätte wahrscheinlich noch so kurz ehrfürchtig innegehalten, wenn ich den Arbeitsaufwand vorab voll überblickt hätte.

Alexander Graser: Aber es ist eine einmalige Chance für die Studierenden, das zu machen.

Alexander Graser: Also von der Erfahrung her. Aber es ist natürlich auch einfach ein wichtiges Anliegen.

Alexander Graser: Also ich glaube, Zögern hätte da keinen Raum gehabt, zumindest wenn man die Strategic Litigation Unit dazu fragt.

Katharina Herkommer: Und wo steht ihr jetzt?

Alexander Graser: Ja, das ist,... Wir warten.

Alexander Graser: Gerade ist das Verfahren sozusagen in Warteschleife, weil Rechtsfragen per externen Gutachten, insbesondere zum brasilianischen Recht, geklärt werden müssen.

Alexander Graser: Das spricht ein Problem an, was die universitäre Verfolgung solcher Verfahren tatsächlich immer mit sich bringt:

Alexander Graser: Solche Gerichtsverfahren haben ihren eigenen Takt, und der ist nicht immer vorhersehbar.

Alexander Graser: Dieses Verfahren liegt jetzt schon eine ganze Weile ruhend sozusagen, und das ist emotional – zumal für die Studierenden – schwierig.

Alexander Graser: Da arbeitet man sich rein und ist wochenlang Tag und Nacht an dem Fall.

Alexander Graser: Und dann gibt man den Schriftsatz ab und es ist Ruhe.

Alexander Graser: Und man weiß nicht, ob die Ruhe jetzt zwei Monate oder ein Jahr lang ist.

Alexander Graser: Das ist durchaus schwierig.

Alexander Graser: Es ist auch schwer zu organisieren natürlich, weil die jungen Leute ihren Lebensweg weiter beschreiten und so.

Alexander Graser: Also das ist nicht ganz leicht im Moment.

Alexander Graser: Also im Moment warten wir, sind aber guter Dinge, dass es bald weitergeht.

Alexander Graser: Aber es ist ja wie eingangs gesagt nicht so, dass wir Arbeitsmangel hätten.

Alexander Graser: Wir haben eine Reihe von anderen Verfahren in der Zwischenzeit dann aufnehmen können.

Alexander Graser: Also unbeschäftigt ist man nicht, aber emotional ist es trotzdem schwierig, so lange zu warten.

Katharina Herkommer: Das heißt, ihr beschäftigt euch in der Strategic Litigation Unit mit mehreren Fällen, und die sind wahrscheinlich nicht alle so prestigeträchtig und groß wie die Staudamm-Geschichte?

Alexander Graser: Ja genau, das ist das volle Spektrum.

Alexander Graser: Und natürlich ist der Brumadinho-Fall größer als alles, was wir bisher gemacht haben.

Alexander Graser: Und wahrscheinlich wird es auch in Zukunft einer der größeren bleiben.

Alexander Graser: Aber wir machen viele Fälle.

Alexander Graser: Jetzt gerade haben wir tatsächlich auch mal einen Erfolg zu verzeichnen.

Alexander Graser: Die vorhin erwähnte Studentin aus Afghanistan, die einen Studienplatz in Regensburg hatte, eine Zusage hatte, aber einfach weil die Visumserteilung sich ohne sachliche Gründe sehr lange gezogen hat, geflohen, in Teheran untergetaucht, als afghanische Frau in sehr prekärer Lebenssituation abwarten musste, bis endlich das Visum erteilt wird.

Alexander Graser: Auch da hat die Strategic Litigation Unit dran gearbeitet.

Alexander Graser: Einstweiligen Rechtsschutz von dem Verwaltungsgericht Berlin gesucht, das Auswärtige Amt verklagt auf schnellere Erteilung des Visums.

Alexander Graser: Und tatsächlich – letzte Woche haben wir erfahren: Wir haben das Visum.

Alexander Graser: Das heißt, ein kleineres Verfahren, aber eines, das schon erfolgreich abgeschlossen ist – auch eine schöne Nachricht.

Katharina Herkommer: Großartig.

Katharina Herkommer: Gibt euch bestimmt auch Energie weiterzumachen.

Katharina Herkommer: Wie hängt denn das jetzt alles – die Strategic Litigation Unit – mit unserem Überthema "Zugang zum Recht" zusammen?

Katharina Herkommer: Du hast vorher erwähnt, dass die Prozesskosten so hoch sind zum Beispiel – dass TÜV Süd da so viel Energie und Geld reinstecken kann.

Katharina Herkommer: Das ist ja ein Aspekt: dass es unfair ist, tatsächlich David gegen Goliath zu kämpfen.

Katharina Herkommer: Aber ansonsten: Was hat strategic litigation mit Zugang zum Recht zu tun?

Alexander Graser: Es hängt eigentlich sehr eng zusammen, weil viele strategische Verfahren eben bewusst da geführt werden, wo die Klagenden alleine nicht die Ressourcen hätten, ihre Interessen zu verfolgen.

Alexander Graser: Man sieht es an dem TÜV Süd-Fall insofern, als natürlich die Hinterbliebenen der Staudamm-Katastrophenopfer nicht die Möglichkeit gehabt hätten, in Deutschland vor dem Landgericht München einen Prozess zu beginnen.

Alexander Graser: Da braucht es Unterstützung.

Alexander Graser: Es braucht dabei aber eben auch, weil man das nicht in jedem Einzelfall weltweit tun kann, immer wieder Verfahren, die diese Rechtsprobleme sichtbar machen.

Alexander Graser: Und das sind eben strategische Verfahren.

Alexander Graser: Man versucht dann ein generelles Problem im Rahmen eines typischen Verfahrens sichtbar zu machen und natürlich, wenn es gut läuft, auch noch die Rechtslage entsprechend so zu beeinflussen, so zu prägen, dass es künftig bessere Lösungen für solche Fälle gibt.

Alexander Graser: Das ist, wenn wir den Fall der Afghanin nehmen, genauso gegen zu langsame Visumserteilungen und die ganzen Zuständigkeitsprobleme, die da eine Rolle spielen.

Alexander Graser: Also unsere Studentin hätte, wurde ihr gesagt, nicht in Teheran, sondern in Islamabad ihren Antrag stellen sollen, was 3000 Kilometer Reise bedurft hätte in prekären Situationen.

Alexander Graser: Das ist ganz gängig für Menschen, die einen Anspruch auf ein Visum in Deutschland haben, aber eben nicht zu ihrem Recht kommen.

Alexander Graser: Wenn man sowas durchsetzen will, braucht man entsprechende Musterverfahren.

Alexander Graser: Das heißt, der Zugang zum Recht kann auch dadurch gefördert werden, dass diese Situationen in Musterverfahren mal deutlich gemacht werden und womöglich auch die Rechtslage diesbezüglich verbessert wird.

Katharina Herkommer: Du forschst ja in diesen Bereichen und bist eben praktisch involviert durch die Projekte, die in der Fakultät bei euch stattfinden.

Katharina Herkommer: Ist das für dich eine wichtige Kombi?

Katharina Herkommer: Also brauchst du sowas wie zum Beispiel diese Erfolge mit der Jungen Afghanin, auch um in deiner Arbeit weiterzumachen?

Alexander Graser: Ja, persönlich ist es natürlich schön, wenn man mal gewinnt.

Alexander Graser: Zumal: Wenn man im Bereich strategic litigation unterwegs ist, wird man nicht verwöhnt mit diesen Erfahrungen.

Alexander Graser: Also insofern die persönliche Komponente der Frage:

Alexander Graser: Mir gibt es schon auch Auftrieb, wenn einzelne dieser Verfahren glücken und man sich nicht darauf verlassen muss, dass es diese etwas weiteren Folgewirkungen haben kann und da positiv sind.

Alexander Graser: Aber ich glaube auch, dass das eine wichtige Verzahnung von Wissenschaft und Praxis ist.

Alexander Graser: Also die Hochschule ist eigentlich der ideale Ort zur Identifikation von Themen für Zugangsproblematiken, aber vor allen Dingen eben auch für strategische Verfahren.

Alexander Graser: Im Prinzip ist die Arbeit einer rechtswissenschaftlichen Fakultät sehr oft das Sich-Auseinandersetzen mit unzureichenden Situationen im Recht.

Alexander Graser: Man denkt über Missstände nach, über Verbesserungsmöglichkeiten, über Widersprüche, über Schwierigkeiten in der Durchsetzung.

Alexander Graser: Das ist wissenschaftliche Arbeit in der Rechtswissenschaft.

Alexander Graser: Und das sind zugleich natürlich Themen, die dann in der Praxis auf die Weise verfolgt und vielleicht auch tatsächlich verändert werden können.

Alexander Graser: Also insofern kann man als einen Aspekt universitärer Tätigkeit begreifen, dass man Themenlieferant für diesen Bereich ist.

Alexander Graser: Und für mich persönlich ist es jetzt noch enger die Schnittstelle zu meiner konkreten Arbeit, weil ich mich eben auch mit den Phänomenen strategic litigation und den zugrunde liegenden Umsetzungsschwierigkeiten befasse.

Alexander Graser: Also nicht nur mit den Problemen im Recht selbst, sondern eben auch mit dieser Umsetzungsperspektive.

Alexander Graser: Und da sind die Erfahrungen aus der praktischen Arbeit natürlich sehr wichtig auch für meine wissenschaftliche Arbeit.

Alexander Graser: Einfach weil ich konkret sehe, wo die Schwierigkeiten liegen, wie das praktisch angegangen werden kann.

Alexander Graser: Auch die Kontakte zu den entsprechenden Akteuren.

Alexander Graser: Ich muss dazu sagen: Ich bin ja da in aller Regel nur in zweiter Reihe beratend, beobachtend.

Alexander Graser: Und insofern schon weiterhin als Wissenschaftler dabei.

Alexander Graser: Aber praktische Einbindung ist unbezahlbar.

Katharina Herkommer: Du hast gesagt, es gibt dir persönlich Kraft, wenn du so Erfolge hast, in deiner Forschung weiterzumachen.

Katharina Herkommer: Was wäre denn deine persönliche Minimalhoffnung für den Brumadinho-Fall?

Katharina Herkommer: Und damit meine ich jetzt nicht: "In dem Paragraphen haben wir Recht bekommen oder nicht", sondern: Was müsste das Kämpfen sozusagen für dich bewirkt haben, damit du sagst: "Es hat sich gelohnt"?

Alexander Graser: Ja, Minimalhoffnung ist insofern eine interessante Frage, weil: wenn man sich dann mal eingearbeitet hat, wenn man so einen Fall lange begleitet hat, dann neigt man zu Maximalhoffnung.

Alexander Graser: Und wir wollen,... also ich würde sehr gerne sehen, dass der Fall einfach gewonnen wird.

Alexander Graser: Aber realistisch, klar, ist das ein sehr weites Ziel.

Alexander Graser: Also ich glaube, das ist erreichbar und sollte so ausgehen.

Alexander Graser: Aber wie gesagt, es gibt sehr viele Erfolge, die unterwegs schon stattfinden.

Alexander Graser: Ich glaube, Brumadinho hat bereits erreicht, dass die Angehörigen der Opfer das Gefühl haben, dass sie selber Akteure sind, dass sie selber eine Stimme haben und die Stimme auch in Deutschland laut wird, gehört wird.

Alexander Graser: Das, glaube ich, ist schon ein großer Schritt.

Alexander Graser: Und das finde ich auch persönlich sehr befriedigend, wenn man dazu beitragen kann, dass das erreicht wird.

Alexander Graser: Dann gibt es natürlich auch eine Diskussion darüber.

Alexander Graser: Und unabhängig,...ich mein': die Verstorbenen von Brumadinho werden nicht wieder lebendig gemacht.

Alexander Graser: Der Schadensersatz für die Angehörigen ist natürlich eine große Hilfe für die Familien.

Alexander Graser: Aber das Wesentliche an dem Schaden ist passiert und unwiederbringlich passiert.

Alexander Graser: Aber dazu beizutragen, dass künftig ein verantwortungsvolleres Regime herrscht, andere Regeln herrschen, die mehr Vorkehrungen erfordern, um eben die Menschen in solchen Situationen besser zu schützen, das ist, glaube ich, ein Ziel, für das es sich sehr lohnt, zu streiten.

Alexander Graser: Und ich sehe das bei den Studierenden, dass das für die, glaube ich, der wichtigste Aspekt ist: beizutragen zu einem – ganz idealistisch und vielleicht ein bisschen pathetisch formuliert – zu einem gerechteren Zustand, zu einer gerechteren Welt in der Hinsicht.

Katharina Herkommer: Es sei jedem vergönnt, der dieses Ziel hat, dafür zu kämpfen, finde ich.

Katharina Herkommer: Ich wünsche euch auf jeden Fall ganz viel Erfolg dabei – allen die da teilnehmen und eurer gesamten Fakultät.

Katharina Herkommer: Wirklich toll, dass ihr euch da so engagiert in diesen Bereichen.

Katharina Herkommer: Vielen Dank, dass du heute hier bei mir im Studio warst, Alexander Graser, und uns von eurer wichtigen Arbeit erzählt hast.

Katharina Herkommer: Habt ihr Fragen oder Feedback, liebe Hörerinnen und Hörer? Dann schreibt uns doch super gerne an kontakt@ur.de.

Katharina Herkommer: Wir freuen uns wirklich über eure Meinung.

Katharina Herkommer: Ihr könnt uns auch Fragen für meinen nächsten Gast schicken:

Katharina Herkommer: Das wird Herr Professor Skriebeleit sein, der Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg.

Katharina Herkommer: Mit ihm spreche ich nächsten Monat darüber, wie wir Erinnerungen – gerade in unserer heutigen Zeit – immer wieder neu wachhalten können.

Katharina Herkommer: Also ein ganz wichtiges Thema.

Katharina Herkommer: Habt ihr etwas, das ich unbedingt mit ihm besprechen sollte? Dann schreibt mir auch das an kontakt@ur.de.

Katharina Herkommer: Und empfehlt den Gasthörer natürlich auch gerne weiter, wenn ihr uns mögt.

Katharina Herkommer: Aber jetzt noch mal Danke an dich, Alex, und danke auch an euch fürs Zuhören!

Katharina Herkommer: Ich bin Katharina Herkommer – bis bald und Tschüss, liebe Gasthörerinnen und Gasthörer.

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